Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit 2020
von unserem Pfarrer Vornewald (zum 3.5.2020)
Am letzten Sonntag in der Polit-talk-runde: Derjenige, der schon im Bundestag verkündet hatte, dass jetzt die Zeit der Harmonie zuende sei, saß auch dabei. Und so ging es dann zu: Es wurden die unterschiedlichen Sichten auf die gegenwärtige Lage diskutiert. Die sog. Fakten wurden anders gewertet, wobei sich der anwesende Ministerpräsident (einer von ihnen muss zur Zeit immer dabei sitzen) lautstark beklagte, dass der eine Virologe das und der andere dies sagen würde. Der, der gerade redete, redete möglichst lang. Je länger das Ganze dauerte, bekam man den Eindruck, es ginge vor allem darum, die Meinungshoheit zu gewinnen. Man ließ sich nicht mehr ausreden, zunehmend sprach man sich den guten Willen ab und am Schluss wusste ich nicht mehr als vorher, was nun richtig ist. Hatten vielleicht doch die am ehesten Recht, die gegen Ende immer weniger zu Wort kamen? Natürlich, unsere komplexe Welt hat so viele Ebenen und Situationen gleichzeitig, und je nachdem, wie ich die gewichte, komme ich zu anderen Handlungsentscheidungen. Wie gut, dass es Leute gibt, die sich da einbringen und ihre Sicht mit persönlichem Engagement vertreten. Aber jedesmal, wenn ich mir so eine Runde antue, beschleicht mich auch das ungute Gefühl, dass es nicht nur um eine möglichste Annäherung an das Gute geht, sondern darum, wie man rüberkommt, wer am Ende die Leute auf seine Seite gezogen hat. Und alle, die da sitzen, scheinen darin auch geschult zu sein. Es beschleicht mich der Endruck, dass unsere Demokratie mutiert ist zu einer Mediokratie. Wirkung geht vor Haltung, Interessen werden vertreten, nicht das Wohl der Menschen. Und wenn man den politischen Diskurs verfolgt, so es scheint so zu sein, als ob das alle ganz normal finden. Und alle, die da agieren, wirken wie davon getrieben.
So geht das in der Demokratie, der besten aller schlechten Regierungsformen.
Angesichts der komplexen Materie fühle ich mich zusehends hilflos. Ich bin weder ein Virologe noch ein Hygieniker noch ein Fachmann der Oekonomie noch ein Oekologe noch ein … Irgendwie bleibt mir nur übrig, mir anzugucken, wer von denen, die da sitzen, und die unser Leben bestimmen und zur Zeit sehr ernste Entscheidungen fällen müssen, am ehesten glaubwürdig ist. Das ist sehr unbefriedigend. Zumal ich ja weiß, sie sind darin geschult, glaubwürdig zu wirken …
Heute, drei Wochen nach Ostern, ist der Sonntag des guten Hirten. Das klingt abgegriffen und es gefällt mir nicht, wenn Leute halb im Ernst von den Menschen, mit denen ich als Pfarrer zu tun habe, von meinen Schäfchen sprechen. Um dieses Bildwort gewichten zu können, muss man etwas wissen. Schafe haben eine sehr spezielle Eigenschaft: sie können Stimmen unterscheiden. Wenn an einer der ganz wenigen Wasserstellen in Palästina mehrere Schafherden zugleich waren, dann musste der Hirte sich keine Sorge machen. Wenn er ruft, folgen ihm seine Schafe, wenn ein anderer Hirt ruft, dann bleiben sie da. Im Evangelium heißt es: Die Schafe folgen dem Hirten, denn sie kennen seine Stimme. Sie vermögen zu unterscheiden, wer sie ruft. Und das Kriterium ist: Wer durch die Tür hineingeht, das ist der Hirt der Schafe. Um dies herauszufinden, sind wir eingeladen, unsere Fähigkeiten zur Unterscheidung einzubringen. Wie in kaum einem anderen Evangelium ist es hier wichtig, dass man die Dreidimensionalität des Textes wahrnimmt. Er ist nicht nur so etwas wie ein Polizeibericht, wo die Fakten einer Begebenheit möglichst präzise aufgeschrieben sind, mit Angaben von Ort und Zeit. Er erzählt etwas, was zwar eine Begebenheit aus dem Leben Jesu ist, aber so, dass sich darin spiegelt, wie die Christen der ersten Generation mit ihm gelebt haben und was sie erfahren haben. Diejenigen, die sich nach seiner Auferstehung auf ihn eingelassen haben, haben wohl sehr gut damit gelebt. Mir ist ein Satz von Tomas Halik zum Schlüssel geworden: Jemand lieben heißt, ihm sagen: Ich will, dass Du lebst! Genau darum geht es Jesus! Deshalb heißt es in 10,10: Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Und wenn der Text dreidimensional ist, dann heißt das, dass dies die Grunderkenntnis von einem gemeinsamem Leben mit ihm ist. Das haben Menschen mit ihm erfahren. Deshalb ergeht die Einladung, ihm zu folgen, seine Stimme zu hören, sich auf ihn einzulassen.
Und mitgegeben wird die Erkenntnis, dass eigene Freiheit nicht bedeutet, alles völlig autonom aus sich selbst zu tun und schaffen zu müssen, sondern die Fähigkeit zu unterscheiden, auf wen ich mich einlasse, wem ich Vertrauen schenke. Welche Worte überzeugen, wem geht es wirklich um mein Wohl?
Und darin ist dann auch noch die Erkenntnis, dass ich das, was ich brauche zum Leben, gar nicht machen kann, sondern mir von einem anderen gegeben werden muss. Wir sind Du-Wesen, hat das mal jemand genannt. Das heißt, am Du eines anderen wächst mein Ich, an der Liebe, die ich von anderen erfahre, werde ich, wer ich bin. „Er stillt mein Verlangen, er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen!“, heißt es im Gute Hirten Psalm. Und wenn im Evangelium die Anderen abwertend Diebe und Räuber genannt werden, so geht es nicht um die Abwertung, sondern darum, wie groß der Unterschied ist. Johannes 10,10 ist für viele Christen sprichwörtlich das Schlüsselwort für ihre Glaubenserfahrung geworden: Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben!
Von den Schafen heißt es: Sie kennen seine Stimme! Diese Erkenntnis ist bei Schafen wohl intuitiv, im Beziehungsgeschehen des Evangeliums ist es ein Prozess des Wachsens von Vertrauen. Für das Wachsen von Vertrauen braucht es Erfahrungen, braucht es Verlässlichkeit im Umgang. So, dass jemand lernt, es ist gut für mich, für uns, sich auf ihn einzulassen, auf ihn zu hören und ihm zu folgen. Und so für das eigene Leben Halt und Richtung zu finden, Freude und Hoffnung. Der gute Hirt kommt durch die Tür!
Und doch gibt es auch in uns so etwas wie eine innere Intuition, dass wir wie die Schafe auf seine Stimme hören. Als Jesus vor Pilatus steht, sagt er, er sei gekommen, für die Wahrheit Zeugnis abzulegen, dann folgt der geheimnisvolle Satz: „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme!“ Worauf der mächtige Statthalter des römischen Kaisers fragt: Was ist Wahrheit? Was könnte das sein: „Der aus der Wahrheit ist“? Könnte es dabei um die uns mitgegebene Gewissheit gehen um gut und böse, dass wir aus uns heraus einfach wissen, wem wir zu folgen haben, was dran ist zu tun oder zu lassen? Diese innere Stimme, die man Gewissen nennt. Und das Hören dieser Stimme gilt dann irgendwie nicht nur für diejenigen, die bewusst dem Auferstandenen begegnet sind und sich nach ihm Christen nennen. Paul Claudel hatte die Erkenntnis, dass Christus wie ein Wasserzeichen in die ganze Schöpfung eingeprägt sei. So ist es in einem viel größerem Ausmaß möglich, seine Stimme zu hören. Diese sogenannte innere Stimme ist nichts fertiges, sondern eine Anlage, die sich entfalten muss. Das tut sie vor durch Einsichten, vor allem durch die Erfahrung von wirklicher Güte (so nennt man doch das Gute, wenn es sich einem zuwendet), wenn es jemandem darum geht, dass ich lebe. Das ist eine Lebensschule von Beginn an, die nie endet. Jede auch kleine solche Erfahrung ist unendlich kostbar. Aber es braucht auch unendlich viel davon, dass man wirklich Vertrauen lernt und frei wird. Frei wird zum Guten. Jede andere Erfahrung kann sehr verletzen. Wenn jemand zum Dieb wird, der uns Leben nimmt statt gibt.
In solchen Prozessen und dem Hören auf die Stimme in uns und ihr folgen oder eben nicht sind wir alle immer mittendrin, Jede/jeder hat seine eigene Geschichte mit gütigen und verletzenden Erfahrungen. Mit jeder Entscheidung geht diese Geschichte weiter. Das gilt natürlich auch für Politiker und Wissenschaftler. Keiner hat die Wahrheit für sich in Besitz, man muss aushalten, dass alle Erkenntnisse relativ sind.
Wenn der Wille, dass andere Leben haben und das, was vor Pilatus von Jesus Wahrheit genannt wird, zusammenkommen, dann ist dies eine Steigerung, die wirklich zum Leben in Fülle führt. Denn das heißt ja: Es geht einer/einem anderen wirklich um mich, um mein Leben. Wenn dies Menschen miteinander teilen, wenn sie das neue Gebot erfüllen: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!“, dann wird der Spitzensatz Johannes 10,10 in seiner Tragweite plausibel: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben!“ Und diese Erfahrung ist dann wiederum der beste Weg, dass sich die eigene Anlage des Gewissens entfaltet. So helfen wir uns gegenseitig zur Güte und lassen uns vom guten Hirten führen. Dieser Hirt ist wirklich gut.
Dies ist uns gegeben und aufgegeben im Leben miteinander in den Tagen der Coronakrise. So lassen wir uns von Gott führen zum Leben. Und alles Ringen und Suchen um den richtigen Weg hat von daher eine innere Fülle, die uns leben lässt. Es gibt eine ganz einfache Beobachtung, etwas von diesem Wasserzeichen in diesen Tagen zu entdecken: mit der Maske im Gesicht schützt ja keiner sich selbst, sondern die Anderen. So ist die Maske im Gesicht der Anderen ein kleines Zeichen dafür, dass wir einander das Leben wünschen!