Predigt zum 25.10.2020
von unserem Pfarrer Vornewald
Meine Großmutter hatte einen Satz, den sie sehr liebte und auch auf die Todesanzeige lhres Mannes hat schreiben lassen: „Was wir lieben, ist geblieben, bleibt in Ewigkeit“. Das ist das, was bleibt. Das stimmt zwar als Resultat unserer Erinnerungen nicht immer, leider. Aber es ist das Einzige, was Bestand hat, was einen bleibenden Wert bedeutet.
Als Jesus nach dem wichtigsten Gebot gefragt wurde, da antwortete er mit dem Gebot der Liebe, zu Gott und zum Nächsten.
Wieder ist es gut, wenn wir uns die Situation vor Augen führen: Dies wird erzählt, nachdem Jesus schon in seine Stadt eingezogen ist. Und wieder sind es Vertreter der jüdischen Religion, mit denen er spricht: Und wiederum ist die Situation für Jesus prekär. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen, heißt es. Die Auseinandersetzung geht weiter. Sie sammeln weiter Hölzchen für seinen Scheiterhaufen, hat dies jemand treffend beschrieben. Die Antwort ist knapp und eindeutig, die Jesus gibt. Und wie in der Episode, die wir am letzten Sonntag betrachtet haben, irgendwie entwaffnend. Dieses erste Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken“, war nichts neues. Es sind bis heute die Grundworte, die jeder Jude auswendig spricht. Das berühmte „Sch’ma Israel“, „Höre Israel, der HERR, dein Gott ist einzig, darum sollst du ihn lieben …“, hat man als Erinnerung am Türrahmen stehen, trägt es als Band am Arm. „Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollst du im Herzen tragen. Du sollst es deinen Kindern wiederholen, du sollst davon reden, wenn du im Haus bist und wenn du auf der Straße gehst, wenn du sich schlafen legst und wenn du wieder aufstehst …“ Dass dies das wichtigste Gebot ist, war für einen Juden eine Selbstverständlichkeit. Das zweite Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, findet sich ebenfalls im alten Testament, allerdings an einer anderen Stelle. Dass Jesus die beiden Gebote zusammenzieht und sie als gleich wichtig sieht, ist vermutlich original von ihm, aber auch nicht ganz verwunderlich.
Dennoch kann es auch Sprengstoff gewesen sein! Denn Liebe als höchstes und wichtigstes Gebot relativiert das Maß zum Bewerten. Nicht in dem Sinn, dass nun alles gleichgültig ist, sondern in dem Sinn, dass den Pharisäern und den Gesetzeslehrern die allgültige Bewertung entzogen ist. Und damit haben sie keine Macht über die Menschen! Denn wer kann Liebe messen? Doch nur Gott! Alle Menschen stehen unter dem Gebot, nicht darüber. Ich kann messen, ob jemand das Sonntagsgebot erfüllt oder die Fastenanweisungen einhält. Aber wenn das Wichtigste Liebe ist, dann ist nicht das äußere Erfüllen das gültige Maß, sondern die Liebe, mit der jemand dies tut. Das entmachtet die Gesetzeslehrer und die Pharisäer. Und mit all ihrem Erfüllen von äußeren Gesetzen sind sie dennoch nicht automatisch die Besten. Und es ist ihnen entzogen, ein irgendwie letztgültiges Urteil zu sprechen. Die echte Ehrfurcht vor Gott unterbindet das. Jedes menschliche Sprechen und Richten ist relativ, nicht letztgültig! Sonst ist es gerade nicht im Namen Gottes!
Beim hl. Alfons von Ligouri, einem Moraltheologen der Barockzeit, habe ich einen faszinerenden Gedanken gefunden. Aufbauend auf der Erkenntnis, dass das Gewissen eine Anlage in uns ist, die sich entfalten muss, beschreibt er, wie manche Menschen durch Erziehung und Erfahrungen keine volle Entfaltung ihres Gewissensspruchs erlangen. Dann kann nach Alfons folgendes passieren. So ein Mensch tut etwas, was objektiv moralisch vielleicht zu verurteilen ist, aber es ist für ihn die ihm mögliche Annäherung an das Gute. Es kann sein, dass er es so ehrlich und echt tut, dass es einen höheren moralischen Wert hat als das Tun eines anderen, der objektiv gesehen moralischer handelt. Das heißt nicht, dass die objektiven ethischen Werte nicht stimmen, und wir können dankbar sein für alles, was wir erkennen lernen und so unterscheiden, was gut und was böse ist. Aber wenn wir dabei nicht die eine entscheidende Erkenntnis machen, nämlich die der Liebe, dann sind wir unmoralisch!
Wenn einem diese Gedanken naherücken und unter die Haut gehen, dann ziehen sie mir so manchen Boden unter den Füßen weg. Oder machen mich zumindest innerlich unruhig. Gut so, wenn es so ist. Bei dem spanischen Mystiker Johannnes vom Kreuz kann man lesen: Wir werden nach unserer Liebe gefragt!
Der Apostel Paulus, der von einem jüdischen Gesetzeslehrer zum Christen wurde, bringt das auf den Punkt: Ich nehme das Urteil von keinem Menschen an. Der mich richtet, ist der Herr. Damit gibt er sich keinen Freibrief, im Gegenteil! Wir werden nach unserer Liebe gefragt! Nach dem wichtigsten Gebot! Wir werden gefragt! Lieben kann man nur frei. Aber andersherum ist die Liebe das, was unbedingt nötig ist. Und die anderen Gebote, gelten die nicht mehr? Doch, aber es soll einem ruhig im Ohr klingen, was im Hohen Lied der Liebe immer wieder aufklingt: …hätte aber die Liebe nicht, … Egal, wie groß das Opfer, wie heroisch die Tat, wie großartig und professionell das Engagement, ohne Liebe ist alles nichts. Die anderen Gebote können die Liebe nicht ersetzen. Aber sie können Ausdruck der Liebe sein. Durch sie wird die Liebe konkret, verleiblicht sich, wird zeitlich, wird greifbar und erfahrbar. Wenn bei uns die Kinder im Religionsunterricht die zehn Gebote lernen, dann basteln sie eine Blume mit zehn Blütenblättern, auf jedem Blatt steht eines der Gebote. In die Mitte der Blume schreiben wir das Doppelgebot der Liebe. Die 10 Gebote umrahmen das wichtigste zweifache Gebot, sie wachsen aus ihm heraus, wie Strahlen, durch die das Licht zum Leuchten kommt. Aber wehe, wenn die Mitte leer ist, wenn gar kein Licht da ist.
Vielleicht wird das klarer, wenn man es umdreht. Was hilft einem Menschen, heil zu werden, innerlich zu wachsen und Lebensglück zu finden? Ohne Liebe bleibt alles wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Es ist eine Enttäuschung, die es nur noch liebloser werden lässt, die schadet und nicht aufbaut.
Dann bleibt uns nichts anderes, als uns immer neu nach unserer Liebe zu fragen: Zu Gott?! Mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all meinen Gedanken, heißt es in dem Gebot. Das ist ja logisch, denn lieben kann man nur ganz. Ist mir Gott Herzensanliegen, seine Botschaft zu hören, seine Nähe und sein Reich? Fühle ich mich in ihn ein? Nichts von dem, was ich von ihm weiß, ist selbstverständlich. Alles ist Grund, sich zu freuen, zu staunen und ehrfürchtig glücklich zu werden. Aber damit dies wirklich wird, muss ich meine Vorstellung von ihm immer wieder revidieren, reinigen, loslassen und neu entdecken! Ich werde damit nie fertig. Si comprehenderis, non es Deus, wenn du es begriffen hast, so ist es nicht Gott! Und mir ist etwas anderes auch wichtig. Schon zwischen Menschen ist manchmal der erste Schritt zur Liebe, dass ich zulasse, bedürftig gegenüber dem anderen zu sein, dass ich einsehe, dass ich ihn brauche. Gott gegenüber ist das mit Gewissheit so: Er ist mein Schöpfer, ich bin sein Geschöpf! Ich lasse mich von ihm beschenken, lasse zu, dass er zu mir kommt und bei mir ist. Ich erlebe bei mir, dass ich das manchmal gar nicht tue. Aus diesem Offensein kommt als nächstes die Einsicht, dass ich tiefen Grund habe, dankbar zu sein. Und aus der Dankbarkeit wachsen die Motive zum eigenen Lieben. Er will mein und unser Glück. Das ist das erste, was gemeint ist, wenn wir beten: Dein Wille geschehe! Auch die Liebe zu Gott braucht Verleiblichung, Zeit und Raum und mein Dasein. Das meint mein Gebet, wo ich Zeit habe für ihn. Das Mitfeiern der Gottesdienste ist auch ein Ausdruck der Liebe zu Gott. Wir sind von ihm eingeladen! Ich habe viel Respekt vor manchen Leuten, die immer wieder da sind, obwohl es ihnen nicht leichtfällt. Die Gottesdienste sind immer auch ein Fürbittgebet, wir sind nie nur für uns zusammen! Und darum auch Liebe zu unseren Mitmenschen. Und übrigens auch zu den Anderen, die mitfeiern, denen ich durch meine Gegenwart das Zeugnis meines Glaubens schenke. Dem Gottesdienst ist nichts vorzuziehen, sagt der hl. Benedikt in seiner Klosterregel. Etwas von dieser Haltung kann helfen in der Liebe zu Gott.
Und unseren Nächsten wie uns selbst. Unseren Nächsten, Liebe ist immer konkret. Sie wird wirklich oder sie existiert nicht. Im Lukasevangelium wird nach dem Benennen des doppelten Liebesgebots die Frage nachgeschoben: Und wer ist mein Nächster? Da erzählt Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Am Ende dreht er die Frage um: Wer hat sich ihm als der Nächste erwiesen? Ja, Liebe schenkt Nähe und wirksame Hilfe und bewirkt Veränderung. Das ist immer neu zu lernen und zu versuchen, man wird darin nie zum Meister, eher ist jedes Lieben wie aus einer Geburt und wie zum ersten Mal. Das ist auch in diesen Tagen zu entdecken und zu lernen, und anzuwenden. In dieser Woche hat Br. Antonius von der Huysburg in einer Pfarrei einen Abend gestaltet über Weisen des Gebets. Als am Ende eine Frau nach vorne kam, um sich bei ihm zu bedanken, setzte er sich schnell eine Maske auf. Klar, sagte diejenige, die dabei war und es mir erzählt hat, das hat er für diese Frau getan!
Liebe, und dann tue, was Du willst!